Was bleibt vom Führungsanspruch, wenn plötzlich niemand mehr im Büro ist? 

Franz-Ferdinand Kress ist vieles zugleich: Interimmanager mit langjähriger Erfahrung, Unternehmensberater, Buchautor und Gründer der Initiative Glück im Quartier. Er kennt die Welt der Zahlen, Prozesse und Strategien. Und er weiß, wo sie an ihre Grenzen stößt.

Mit uns spricht er über die Suche nach sinnerfüllter Arbeit, die Fallstricke systemischer Strukturen – und über das, was moderne Führung allzu oft übersieht.

Elisa: Franz-Ferdinand, was bedeutet für Dich sinnerfüllte Arbeit?
Franz-Ferdinand: Sinnerfüllte Arbeit bedeutet für mich, dass ein Wachstum des Menschen stattfindet. Dass Menschen ihr Potenzial entfalten können – das ist für mich der Kern. Ich sehe meine Aufgabe als Führungskraft, Coach oder Mentor darin, mit jedem Einzelnen ins Gespräch zu kommen: Was willst du bewegen? Was kannst du besonders gut? Was brauchst du, um dich weiterzuentwickeln? Das ist für mich Sinn.

Gab es in deinem Leben ein Schlüsselerlebnis, das deine Sicht auf die Arbeit verändert hat?
Ja, das gab es. Ich habe 1995 ein Buch gelesen, das hieß „Produktivität und Menschlichkeit” von Horst Becker und Ingo Langosch – das hat mich nie mehr losgelassen. Die Frage, wie man beides verbinden kann, war immer mein Thema. Aber der eigentliche Einschnitt kam mit Corona: Ich habe damals ein großes SAP-Projekt für EDEKA geleitet – 150 Leute, alle plötzlich im Homeoffice. Und siehe da: Wir waren produktiver als zuvor. Ich habe mich gefragt: Was habe ich eigentlich die letzten 25 Jahre gemacht? Wie viel Lebenszeit auf Flughäfen vergeudet? Das war ein Moment der Reflexion. Dazu kam die Klimakrise. Ich bin jede Woche geflogen. Völliger Irrsinn.

Und dann hast du eine Ausbildung zum zertifizierten Praktiker im Bruttonationalglück1 gemacht?
Genau. Eine Ausbildung mit vier Modulen – und plötzlich waren da all die Themen, die ich innerlich längst gespürt hatte: Nachhaltigkeit, Klima, soziale Gerechtigkeit. Mir wurde klar, dass ökologisches und sozioökonomisches Denken untrennbar zusammengehören. Und dass wir nicht nur das Klima retten müssen, sondern auch die Gesellschaft.

Warum tun sich viele Unternehmen so schwer damit, ökologische und soziale Themen in ihre Praxis zu integrieren?
Weil unser System auf kurzfristige Rendite ausgelegt ist. Wenn du eine AG bist, dann bist du dem Aktienkurs verpflichtet. Punkt. Und viele Führungskräfte sagen dann: Klimaschutz ist zu teuer, Nachhaltigkeit können wir uns nicht leisten. Das ist ein Trugschluss – aber ein weitverbreiteter. Es fehlt an langfristigem Denken.

Sind Unternehmen abseits der Börse umsichtiger?
Bei den zahlreichen Mittelständlern in Deutschland hängt es vom einzelnen Unternehmer oder der Unternehmerin ab. Wie denken die über sowas? Ist es in deren Wertegerüst selbstverständlich, zu sagen: Natürlich bauen wir hier einen Kindergarten und natürlich machen wir Inklusion und natürlich achten wir auf Klimaschutz. Wenn ja, tun sie es. Sonst eben nicht. 

Du hast viele Betriebe unterschiedlicher Größenordnungen beraten. Welches war das häufigste Muster, auf das du gestoßen bist?
Ehrlich gesagt: In der Hälfte der Fälle war die Führungskraft das Problem. Die beauftragen dich, weil „die Leute nicht funktionieren“ und sagen: „Machen Sie mit denen doch mal ein Kommunikationstraining”. Dann merkst du schnell: Die Art und Weise, wie geführt wird, ist das eigentliche Hindernis. Die Kunst besteht darin, Situationen zu schaffen, in denen das sichtbar wird – ohne jemanden bloßzustellen, aber mit klarem Blick.

Wie hast du das gemacht?
Das war über viele Jahre mein Steckenpferd: Unternehmen so umzugestalten, dass sie eine andere, menschlichere Wertehaltung tatsächlich leben können. Viele Organisationen sind bis heute streng hierarchisch, autoritär oder in funktionalen Silos organisiert – Strukturen, die Kommunikation erschweren und Eigenverantwortung blockieren. Ich habe deshalb nie nur an der Oberfläche gearbeitet, sondern immer auch an der Struktur. Denn Kulturveränderung beginnt nicht bei den Leitbildern an der Wand, sondern bei der Art, wie Menschen zusammenarbeiten, Entscheidungen treffen und Verantwortung teilen.

Stößt man dann nicht ganz oben schließlich trotzdem auf Mauern?
Oft hat man es schon auf Management-Ebene mit Leuten zu tun, die nicht unbedingt so selbstreflektiert sind, wie man sich das vorstellt. Unternehmer, Führungskräfte, das sind oft Alpha-Tiere. Zugeben zu können, dass man gewisse Defizite hat, das braucht schon eine gewisse innerliche Größe. Die haben nicht alle. 

Du hast die Unternehmensberatung mittlerweile an den Nagel gehängt.
Ja, ich habe eine Pause gemacht. Ich wollte etwas Neues beginnen, etwas mit echtem Purpose. Heute bin ich Mitgründer des Startups GovShare , das eine kommunale Klimaschutz- und Klimaanpassungsplattform aufbaut. Wir sind seit mehr als zwei Jahren live.

Purpose ist ein geflügeltes Wort für Startups – aber oft wirkt das aufgesetzt. Wie erlebst du das?
Das ist ein echtes Problem. Ich kenne Beispiele, da machen Firmen vermeintlich sinnvolle Dinge – sexuelle Aufklärung, Klimaschutz –, aber intern geht es toxisch zu. Die Gründer:innen brüllen rum, zahlen mies und behandeln ihre Leute schlecht. Purpose hin oder her – wenn die Kultur nicht stimmt, nützt das gar nichts. Menschen brauchen soziale Anerkennung, Wertschätzung, Gemeinschaft. Das ist oft wichtiger als das große Ziel.

Aber man will ja trotzdem was erreichen?
Klar. Doch es genügt nicht, zu sagen: Übrigens Leute, wir müssen jetzt die Schlagzahl erhöhen, oder wir müssen jetzt drei Millionen Umsatz machen oder fünf Millionen Gewinn – das ist ja alles ziemlich seelenlos. Ich muss also überlegen: Wie formuliere ich Ziele, zu denen die Mannschaft sagt: Gute Geschichte, wir werden der Marktführer für kommunalen Klimaschutz in Deutschland. Viele Führungskräfte in Start-ups kommen aber aus dem technischen Bereich und haben von Unternehmensführung wenig mitgenommen oder nicht gelernt, wie man Menschen begeistert. Da wird mitunter zu wenig drauf geschaut.

Vielleicht, weil am Ende eben doch vor allem Kennzahlen über Erfolg entscheiden, oder?
Es ist schon irre: Unsere Gesellschaft wirkt zunehmend polarisiert, die Ungleichheit ist enorm – aber das kapitalistische System wird weiterhin von vielen nicht in Frage gestellt.  Wahrscheinlich ist es heute so, als hätte man einen Bauern im Mittelalter gefragt: „Findest du es denn gut, dass es einen König gibt?“ Dann hätte der geantwortet: Das ist doch ganz normal. Was anderes kann ich mir nicht vorstellen.

Wie gelingt es dir persönlich, in diesem System zu arbeiten, ohne dich zu verlieren?
Ich bin in einer privilegierten Lage: Ich habe geerbt, habe eine gute Ausbildung und ich arbeite heute nur noch an Projekten, die ich sinnvoll finde. Aus den 08/15-Beratungsprojekten bin ich raus. Zusätzlich unterrichte ich noch an der Uni, mache mein Sozialprojekt Glück im Quartier in Stuttgart und versuche, auf lokaler Ebene etwas zu bewegen. Darin liegt für mich der Schlüssel: bei den Kommunen, in den Nachbarschaften.

Was bedeutete Arbeit für dich früher – und was jetzt?
Ich bin in einem Unternehmerhaushalt groß geworden. Leistung war wichtig, Erfolg auch. In den 90ern war ich begeistert von Change Management – Menschen mitnehmen, Organisationen verändern. Später kam dann die systemische Transaktionsanalyse hinzu. Und das Bruttonationalglück war die spirituelle Erweiterung: Unternehmen sind nicht nur Wirtschaftsakteure – sie sind Teil der Gesellschaft.

Und was ist Erfolg für dich heute?
Wenn ich etwas Gutes in die Welt bringe. Und dabei Menschen glücklich gemacht habe.

1 Das Konzept des Bruttonationalglücks stammt aus Bhutan und stellt die Zufriedenheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung über rein wirtschaftliche Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt. Es misst Lebensqualität anhand von Kriterien wie ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit, psychischer Gesundheit und guter Regierungsführung. Ziel ist nicht Wachstum um jeden Preis, sondern ein ausgewogenes, sinnerfülltes Leben – für den Einzelnen wie für die Gesellschaft.


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