In einer ihrer bekanntesten Studien nahm die Psychologin Carol Dweck eine Gruppe Siebtklässler:innen aus New York und teilte sie zufällig in zwei Gruppen. Alle waren in Mathe nicht besonders erfolgreich. Aber statt ihnen Nachhilfe zu geben, bekamen beide Gruppen Workshops.

Die Kraft einer Idee

Die erste Gruppe lernte, wie man sich Lerninhalte besser merkt. Die zweite bekam nur eine Botschaft mit auf den Weg: Intelligenz ist nicht festgelegt. Sie kann wachsen – genau wie ein Muskel, wenn man ihn trainiert.

Und tatsächlich: In den Monaten danach verbesserten sich die Mathe-Leistungen dieser zweiten Gruppe. Nicht durch neues Wissen, sondern durch neues Denken.  Sie übten mehr. Fragten mehr. Und ließen sich von Fehlern weniger entmutigen.  Die Leistungen der anderen Gruppe blieben gleich.

Was Dweck beobachtete, war die Wirkung einer Haltung: der Überzeugung, dass man lernen, sich entwickeln und besser werden kann. Sie nannte diese Haltung: Growth Mindset.

Diese Idee ist ein Geschenk. Denn sie hilft uns, zu wachsen. Doch sie ist auch eine Einladung zur ständigen Selbstoptimierung. Und hier wird es heikel.

Denn wo fängt Entwicklung an – und wo hört der Selbstwert auf?

Wann wird ein Growth-Mindset zur zwanghaften Selbstoptimierung?

Zwanghafte Selbstoptimierung entsteht, wenn Wachstum nicht mehr aus Neugier oder Freude geschieht, sondern aus Angst oder Druck – dem Druck, dazuzugehören, etwas darstellen zu müssen oder einem unerreichbaren Ideal zu entsprechen. 

Auf den eigenen Körper zu achten und gesund zu essen ist das Eine – an Essstörungen zu erkranken das Andere. Gerade auf Social Media ist die Gefahr groß, scheinbare Growth-Mindset-Botschaften aufzusaugen, die letztlich nur zur Selbstausbeutung führen. Die entscheidende Frage ist: Wächst man, um sich selbst aktiv zu entfalten, oder nur, um für den “Old Success Grinder" besser verwertbar zu sein?

Menschen haben einen natürlichen Trieb, sich mit anderen zu vergleichen und kulturelle Normen zu erfüllen. Das ist per se nichts Schlechtes – aber in einer Gesellschaft, die Selbstwert häufig mit Leistung gleichsetzt, wird genau dieser Mechanismus schnell toxisch. Das kann dazu führen, dass wir selbst kleine Fortschritte nicht mehr würdigen können. Stattdessen verfallen wir in übermäßige Selbstkritik, werden härter mit uns selbst, verlieren die Fähigkeit, Erfolge zu genießen – und entfremden uns zunehmend von dem, was uns eigentlich motiviert hat.

Das Problem liegt nicht in der Idee des Wachstums. Sondern in dem, was wir daraus machen. In einer Kultur, in der man nie genug ist, wird selbst die schönste Haltung zur Falle.

So hältst du dein Growth-Mindset gesund

Wie also können wir vermeiden, in diese Falle zu tappen? Wie bewahren wir uns die inspirierende Kraft des Growth Mindsets – ohne in die Tretmühle der Selbstoptimierung zu geraten?

1. Bleib auf deiner Matte

Vergleich dich nicht mit anderen, sondern mit dir selbst. Dein Wachstum beginnt bei deinen persönlichen Startvoraussetzungen – körperlich, mental, sozial. Ein gesundes Growth Mindset heißt nicht: „Alle können alles“, sondern: „Ich kann mich weiterentwickeln – in meinem Tempo, mit meinen Mitteln.“

In der Pädagogik gewinnt die Idee der „Selbstbezogenen Bezugsnorm“ zunehmend an Bedeutung – also der Vergleich mit dem eigenen Ausgangspunkt statt mit anderen. Studien zeigen, dass Schüler:innen, die auf diese Weise Feedback erhalten, motivierter bleiben und dass ihr Selbstwertgefühl weniger leidet.

Auch im Yoga heißt es: Bleib auf deiner Matte. Weil es nicht darum geht, was der Mensch neben dir kann – sondern was für dich heute möglich ist. 

2. Genieße den Prozess – alles ist vorläufig

Wachstum ist kein Ziel, sondern eine Bewegung. Wer sich nur auf Ergebnisse fixiert, verliert die Freude am Tun. Wer den Weg schätzt und den Wandel akzeptiert, entwickelt nicht nur Resilienz – sondern tiefe Zufriedenheit. Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi nennt das "Flow" – diesen Zustand, in dem man ganz in einer Aufgabe aufgeht. Menschen sind laut seiner Forschung dann am zufriedensten, wenn sie ganz in eine Aufgabe eintauchen.

Du willst dranbleiben? Dann finde Freude am Weg, nicht erst beim Ankommen.

3. Hinterfrage deine Ziele 

Ein Ziel, das du am liebsten „herbeizaubern“ würdest, kann ein Hinweis sein, dass dir der Weg dorthin nicht entspricht. Dann ist nicht das Ziel falsch – sondern vielleicht die Motivation dahinter. Wachstum braucht Neugier, nicht Ungeduld. Wer nur ankommen will, überspringt das, was ihn eigentlich stärker macht: das Werden, nicht das Haben.

Pionierarbeit der Universität Rochester zeigt: Menschen sind zufriedener und langfristig erfolgreicher, wenn ihre Ziele „intrinsisch“ motiviert sind – also aus innerem Interesse entstehen. Wer z. B. Sport treibt, um sich lebendig zu fühlen oder Freude zu erleben, bleibt eher dran als jemand, der „endlich besser aussehen“ will.

Frag dich also regelmäßig: Wofür mache ich das eigentlich – und entspricht der Weg mir wirklich?

Warum willst du wachsen?

Weil du dich entfalten willst? Oder weil du meinst, anders nicht wertvoll zu sein?

Ziele, die aus innerer Motivation entstehen, machen uns zufriedener, zeigen Studien der University of Rochester. Wer hingegen nur ankommen will, überspringt das, was ihn stärker macht: das Werden, nicht das Haben.

Was wir daraus mitnehmen können

Ein Growth Mindset hilft uns, zu glauben: Ich bin nicht festgelegt. Ich bin fähig zu lernen, zu wachsen, zu scheitern und neu zu starten. Das kann heilsam sein. Es kann ein Leben verändern.

Aber: Wir müssen aufpassen, dass aus dem Wachstum kein Druck wird. Dass wir nicht in der Illusion landen, nur zu zählen, wenn wir wachsen.

Manchmal ist Wachstum auch: Stillstehen. Atmen. Innehalten.

Denn selbst das schönste Ziel verliert seinen Glanz, wenn es nur unter Anstrengung erreicht wird. Und vielleicht ist das die größte Erkenntnis: Man kann auch ambitioniert sein – ohne sich klein zu machen.

Ein gesundes Growth Mindset erlaubt es dir, dein Leben bewusst und aktiv zu gestalten. Es erkennt aber auch die Realität äußerer Umstände und Startvoraussetzungen an. Wachstum sollte inspirierend und erfüllend sein – kein Selbstzweck, der dich immer weiter antreibt, ohne jemals Zufriedenheit zu bringen.


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